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Frottagen2003

Kunsthaus Baselland
Kabinett, 17. Mai bis 17. Juli

Der Raum hat mich immer schweigsam gemacht
Sabine Schaschl-Cooper
Et voici que je suis devenu un dessin d'ornement
Volutes sentimentales
Enroulement des spirales
Surface organisée en noir et blanc
Et pourtant je viens de m'entendre respirer
Est-ce b ... mehr

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Frottagen2003

Kunsthaus Baselland
Kabinett, 17. Mai bis 17. Juli

Der Raum hat mich immer schweigsam gemacht


Sabine Schaschl-Cooper


Et voici que je suis devenu un dessin d'ornement
Volutes sentimentales
Enroulement des spirales
Surface organisée en noir et blanc
Et pourtant je viens de m'entendre respirer
Est-ce bien un dessin
Est-ce bien moi.
(Pierre Albert-Birot)

 

Anna Amadio kreiert Zeichnungen und Luftobjekte. Literatur, Architektur und die Bilderwelt per se, welche aus jedem Winkel unseres Alltags auf uns einwirken sind Ausgangspunkt für das, was Amadio in ihren einzelnen Werkschritten aufgreift, weiterverarbeitet und neu interpretiert. Ein grosser Stapel an Bildmaterialien, seien es Fotografien, Kopien oder Ausschnitte aus Zeitungen, stehen der Künstlerin als persönliches Archiv zur Verfügung. Das, was sie an den gesammelten Bildern interessiert, ist deren inhärentes Reizpotential, welches Kräfte der Imagination und der Dynamik freizusetzen vermag. Die unter der Disziplin „Zeichnung“ zusammengefassten Werke beinhalten neben der klassischen Bleistiftzeichnung, auch Arbeiten mit Bunt- oder Filzstiften sowie Frottagen. Hinzu kommen als Arbeitswerkzeuge Schablonen oder Musterblätter mit Leimzeichnungen zu einzelnen ausgewählten Motiven. In ihrer neuesten Werkserie greift Amadio auf eine selbst zusammengestellte Motivfolge zurück, die drei von zahlreichen Vögeln umgebenden Figuren zeigt, wovon eine mit Wasser übergossen wird. Die inhaltlichen Konnotationen des Motivs reichen von historischen Taufszenen bis hin zu heutigen Werbeszenarien, in denen Wasserspiele in verführerische Momente übersetzt werden. In der fertigen Frottage bleibt das Motiv selbst jedoch nur noch in Details erkennbar, es diente als erste konzeptuelle Stütze, aus der heraus sich zahlreiche Prozesse entwickelten: Amadio legt beispielsweise ein Blatt über die Leimzeichnungen und frottiert das Motivdetail mit einem Bündel Buntstiften ab, bevor sie sich dem nächsten Motiv zuwendet. „Es sind gleichzeitig kontrollierte und völlig unkontrollierte Momente, es gibt verwirrende Perspektiven und eingeschobene Wucherungen.“ Konzentrische Kreise, Linienwucherungen, verdichtete Stellen und ausgefranste Parallelbahnen — sie alle vereinen sich zu einem räumlich bizarren Mikrokosmos. Nicht auszuschliessen sind aus dem Kraftakt des Arbeitsprozesses resultierende Oberflächenverletzungen, die von der Künstlerin als aktive Zeichen betrachtet werden.

 

Amadios Zeichnungen leben. Sie generieren ihre vitale Qualität aus den sich auftuenden Zwischenräumen, den kleinen Winkeln, die ein Entkommen unmöglich erscheinen lassen, den in Bewegung geratenen Rundungen, den ineinander verflochtenen Innen- und Aussenzonen, den verdichteten „Verstecken“, in die sich die Einbildungskraft hinzuflüchten vermag. Kein anderer hat die Phänomenologie von Winkeln, Rundungen, Miniaturen, Innen- und Aussenräumen so gut erfasst, wie der französische Philosoph und Naturwissenschaftler Gaston Bachelard. Seine Untersuchungen von den Phänomenen der dichterischen Bilder — also jenen Bildern, die im Bewusstsein auftauchen, „als direktes Erzeugnis des Herzens, der Seele, des Menschen in seiner unmittelbaren Gegenwärtigkeit“ — bilden eine Brücke zum Werkverständnis Amadios. Steht dort beispielsweise zu lesen: „Er ‚lauscht’ der Zeichnung der Dinge, aber da ist eine Ecke, da ist eine Falle, die den Träumer aufhält. … Doch gerade in dieses Gefängnis kehrt der Friede ein. In diesen Ecken, in diesen Winkel scheint der Träumer die Ruhe kennenzulernen, die zwischen dem Sein und Nichtsein vermittelt,“ so könnte diese Beschreibung für das den Zeichnungen innewohnende Spannungs- und Kraftpotential stehen. Auch für die kleinen Details, die es in den Zeichnungen zu beobachten gibt, hält Bachelard eine phänomenologische Beobachtung fest: „Ich besitze die Welt umso besser, je geschickter ich sie zur Miniatur machen kann. Aber man muss berücksichtigen, dass in der Miniatur die Werte dichter und rascher werden.“ In jenen Details liegen ganze Welten — je nach Talent und Imaginationsfähigkeit des Lesers. In Amadios Zeichnungen und Frottagen öffnen die kleinen Details ein Tor zur grossen Welt der Imagination und gewähren den Rezipienten Eintritt zu seiner eigenen Phantasie. Im Akt des Zeichnens generiert das in einer Hand geführte Bündel Stifte anstelle einer einzigen Linie ein komplettes Liniennetz, welches sich als Tal, Schlucht, Gebirge oder ähnliches lesen lässt.

 

Die räumliche Präsenz zwischen den einzelnen Linien trifft sich mit jener der Luftobjekte, während die einzelnen Luftkanäle, aus denen die architektonischen Formen konstruiert sind, ihre Entsprechung in den gebündelten Linienzeichnungen erfahren. Die Zeichnungen ebenso wie die Luftobjekte orientieren sich an der Linie und teilen sich „ein Denken bzw. Arbeiten in Schichten: Die aus inneren und äusseren Hüllen gebildeten Skulpturen wirken, trotz ihrer Wucht und Instabilität, durch die handgeschweissten Nähte wie einfache, sinnlich präsente Zeichnungen im Raum, die lediglich von der physikalischen Kraft der Luft getragen werden.“ Amadios grossformatige Luftarchitekturen aus Polyäthylen oder PVC nehmen Raum ein, nehmen wie sie selbst sagt „im wahrsten Sinne des Wortes Platz weg und stehen im Weg rum, ohne klare Funktion. Sie verbergen nichts, verstecken niemanden und besitzen keine unsichtbaren Kammern. Sie geben alle Elemente der Herstellung preis: die verschweissten Nähte lassen sich erkunden, es gibt keine unsichtbaren Aufhängungen oder doppelte Böden. Nicht einmal der den Raum erzeugende Generator wird verborgen.“ Trotz der Transparenz des Materials vermitteln die Luftobjekte durch ihr „unter Luftdruck-Stehen“ eine starke Präsenz, die zunächst beim Betrachten einen anfänglichen Unglauben erzeugt. Sie wirken bekannt und unbekannt zugleich: die Assoziationsbreite reicht von aufblasbaren Möbel bis hin zu space-artigen Zukunftsarchitekturen. Die Windungen und Bahnen der objekthaften Gebilde gewähren ein physisches Spüren dessen, was die Zeichnungen auf ihrer imaginären Ebene vermitteln. Wenn wir angesichts des Raumes schweigsam werden, so hat dies mit einer geistigen Öffnung zu tun, die sich in den Winkeln, Ecken und Rundungen auf ihr existentielles Sein zurückzieht.

 

Text Sabine Schaschl

 

Fotografien Kunsthaus Basellland

Frottagen

Frottagen |2003 |Frottage, Farbstift auf Papier

Frottage 50a

Frottage 50a |2003 |Frottage, Farbstift auf Papier |150 x 295 cm [H B T]

Frottage 50a, Detail

Frottage 50a, Detail |2003 |Frottage, Farbstift auf Papier

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